Achtsam durch die Natur
Es gibt Tage, da sehne ich mich nach den positiven Effekten von Yoga, kann mich aber irgendwie nicht für einen intensiven Flow entscheiden. Oder ich will andere dafür begeistern, aber sie können grundsätzlich nicht viel mit Yoga anfangen. An solchen Tagen merke ich: es braucht Abwechslung für mich und Alternativen für meine Freunde.
Die entspannende Wirkung von Wandern und Natur wird schon seit einigen Jahren unter Begriffen wie Forest Therapy und Waldbaden kommerzialisiert, was mich oft etwas befremdet hat. Der schnöde Spaziergang soll auf einmal zu einem meditativen, reinigenden Erlebnis werden? Falls du noch nie davon gehört hast: die Idee dahinter ist ein stiller Gang durch den Wald, bei dem ein Guide die Wahrnehmung lenkt und Atemübungen durchführt.
Ich habe lange damit gefremdelt, schliesslich brauche ich keinen Therapeuten, um im Stadtwald herumzulaufen. Bei näherem Hinsehen habe ich allerdings festgestellt, dass dieser Trend der Wellness-Branche eine Ableitung aus der Psychotherapie ist, wo zum Beispiel Suchterkrankungen durch geführte Wanderungen behandelt werden [1]. Im Waldbaden-Ursprungsland Japan werden die Guides sogar staatlich zertifiziert, um so dem wachsenden Anteil von Depressionen und Burnout entgegenzutreten. Spätestens an dieser Stelle musste ich anerkennen, dass hinter dem Konzept mehr steht als reiner Kommerz.
Füsse hochlegen oder auf Trab bringen?
Das wunderbare Gefühl von Ablenkung lieben wir doch alle. Wenn sich die Gedanken immer wieder im Kreis bewegen, man von der Vergangenheit oder Ängsten zur Zukunft nicht wegkommt, kann die Umpolung der Wahrnehmung auf die Umgebung wahre Wunder bewirken. Leider greifen wir aus diesem Grund viel zu oft auf Netflix und Social Media zurück, was uns zwar für einen Moment von der Realität ablenkt, danach aber oft keinen bleibenden Effekt hat.
Dabei stellt sich immer wieder die Frage, ob Smartphone und Fernsehen am Ende wirklich Erholung bringen, die Fragen in unserem Kopf beantworten oder Raum für Gedanken schaffen können. Tatsächlich bringt Medienkonsum oftmals gefühlte Erholung [2], kann jedoch gerade am Abend zu Schlafproblemen durch blaues Licht führen [3] und nachweislich nicht mit den Vorzügen körperlicher Aktivität [4] und digitalem Detox [5] mithalten.
Heilung im Grünen
Es braucht also Aktivität für Erholung und freie Gedanken. Damit sind wir wieder beim Thema Spaziergang Deluxe, wenn man keine Lust auf verschwitzte Sportklamotten hat. An dieser stellt sich mir die Frage, was eigentlich den Unterschied zwischen aktiver Erholung in der Natur und der süssen Verheissung meiner Couch macht? Die Antwort hat zwei Teile: in meinem Kopf verlegt sich die Aufmerksamkeit vom Inneren aufs Äussere, also vom Chaos der Gedanken auf die Umgebung, zusätzlich konnte gezeigt werden, dass allein der Anblick von Natur bereits Entspannung bringt [6, 7]. Körperlich kommen Vorteile hinzu, die kein Netflix-Programm reproduzieren kann: Bewegung im Freien aktiviert das Immunsystem, verbessert die Kondition, vertieft die Atmung und verbessert die Schlafqualität [7, 8, 9].
Als Stadtbewohnerin klingt das erst mal nach Hohn. Schön für die Leute auf dem Land, die anscheinend ohne grosse Mühen von ihrer Umgebung profitieren können, aber was bringt mir das im grauen urbanen Dschungel? Zum Glück sind die Trends der Stadtplanung auf meiner Seite: es gibt immer mehr Experimente mit der Vergrünung von Innenstädten [6, 10, 11]. Beispiele wie Singapur zeigen, dass dies kein aussichtsloser Kampf ist, sondern nur von unserer Kreativität und dem Willen zur Investition in grüne Baukunst gebremst wird. In Schweizer Städten wird die Natur weniger in der Vertikalen (sprich an Hochhäusern) ausgelebt, sondern zeigt sich eher in Form von Parks, offenen Gärten und Stadtwald. Und hier kommt die wirklich gute Nachricht: es braucht nicht einmal Wald, um die heilende Wirkung von Natur zu erfahren.
Aktiviere die Sinne: Anleitung für den Spaziergang Deluxe
Lieber Landbewohner, du weisst was zu tun ist. Lieber Stadtbewohner, auch du hast einen Park, Wald, oder eine Strasse mit vielen Bäumen oder Ausblick auf Gärten in deiner Nähe. Geh einfach beim nächsten Heimweg von der Arbeit durch diesen Stadtteil, falls dir die Zeit für einen ausgedehnten Waldspaziergang fehlt. Mit dieser Anleitung für den achtsamen Spaziergang Deluxe bringst du den Kopf langsam in ruhigere Fahrwasser, inspiriert von Elementen aus Meditation, Achtsamkeitsübungen und Waldbaden.
Atme tief ein und konzentriere dich auf die Gerüche die du dabei wahrnimmst.
Konzentriere dich auf die Bäume, Sträucher und Blumen auf deinem Weg. Wie unterscheiden sich die Bäume voneinander, welche Farben haben Sträucher und Blumen?
Nimmst du Bewegung darin wahr, siehst du Tiere oder Insekten? Kannst du sie vielleicht hören aber nicht sehen, oder sehen aber nicht hören?
Wenn du einen Moment Zeit hast und einen gemütlichen Ort zum Hinsetzen, kannst du deine Sinne auch vertiefen indem du Atemtechniken wie Bauch- oder Wechselatmung einsetzt und dich dann noch einmal auf die Eindrücke deiner einzelnen Sinne konzentrierst.
Quellen und Verweise
[4] Studie der Initiative Gesundheit und Arbeit (iga), Januar 2017